Berichte

„Marxistisches Forum" zum „Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus"

Berlin, Dezember 2004

März 2005

Seine Dezember-Tagung vergangenen Jahres widmete das „Marxistische Forum“, das innerhalb der PDS agiert, insbesondere dem „Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus“ (HKWM). Die Beratung ging davon aus, dass in Deutschland die Menschen, die über einigermaßen solide marxistische Kenntnisse verfügen, den Marxismus als Lebensorientierung nutzen oder gar zum Marxismus forschen, immer weniger werden. Jede gerechte Beurteilung von systematischen, historischen oder lexikalischen Arbeiten zum Marxismus sollte der mißlichen Situation eingedenk sein, die der Marxismus heute im aktuellen Leben unseres Landes einnimmt. Natürlich ist es erfreulich, dass an einer Einrichtung wie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausdauernd und erfolgreich zu Leben und Werk von Karl Marx und Friedrich Engels gearbeitet wird. Doch gleichzeitig wird marxistisches Denken in der BRD aus dem gesamten politischen und kulturellen Leben zu verdrängen gesucht. In allen einflussreichen Medien sind Marxisten nicht gefragt. Ihr Verständnis der Geschichte, der sozialen Verhältnisse oder des aktuellen politischen Geschehens bleiben so der übergroßen Mehrheit unseres Volkes unbekannt. Zunehmend mehr langweilende Talkshows oder Diskussionen im Fernsehen, die zu einem sorgfältig beengten Fragekreis unentwegt die gleichen oberflächlichen Antworten präsentieren, sind der intellektuelle Preis, den unser Land dafür zu bezahlen hat. Ein tatsächlich alternatives Denken ist aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verbannt.

Längst vorbei sind die geradezu „goldenen“ Zeiten, als es in der alten BRD nahezu selbstverständlich war, in sozialtheoretischen Publikationen den Marxismus oder Marxismus-Leninismus wenigstens kritisch zur Kenntnis zu nehmen. Das setzte ja immerhin eine gewisse Beachtung marxistischen Denkens voraus, wenn dies auch oft genug einseitig, ahistorisch oder verstümmelt erfolgte. Einer solchen Kenntnisnahme fühlten sich viele westdeutsche Intellektuelle schon wegen der real existierenden DDR oder erst recht der Sowjetunion verpflichtet. Zahlreiche akademische oder vergleichbare Einrichtungen widmeten sich einst speziell der Kritik des Marxismus-Leninismus in den realsozialistischen Ländern. Marxisten fanden damals vereinzelt selbst an Akademien und Universitäten ein – wenn auch argwöhnisch beäugtes – Wirkungsfeld.

In dieser Zeit sind keineswegs nur diffamierende, den Marxismus entstellende Elaborate zu Wege gebracht worden, sondern auch Arbeiten, die marxistische Theoretiker in den realsozialistischen Ländern unverblümt darauf hinwiesen, welche Fragen zur marxistischen Theorie, zur Geschichte der Arbeiterbewegung oder der realsozialistischen Länder, zum Wirken einzelner Persönlichkeiten durch sie unbeantwortet geblieben waren, zu Unrecht ignoriert oder nur einseitig beachtet wurden.

Das heute unter Leitung von Wolfgang Haug, emeritierter Professor der FU Berlin, entstehende HKWM hat folglich sowohl eine verbreitete Ignoranz, Unkenntnis oder Fehldeutung des Marxismus zu beachten, als auch den Umstand, dass oft über Jahrzehnte marxistische Theoretiker selbst Problemen aus dem Weg gegangen sind oder Tatbestände mißachtet bzw. einseitig interpretiert haben, die für sie relevant waren oder noch sind. Dies alles beschert Haugs Unternehmen sowohl in West- als auch in Ostdeutschland keineswegs nur Freunde.

Tatsächlich sollte streitbaren und suchenden Marxisten das HKWM hoch willkommen sein. Es kann inzwischen auf eine Reihe von publizierten Bänden zurückblicken. 1994 erschien der erste Band, 1995 der zweite, 1997 der dritte, 1999 der vierte, 2001 der fünfte und 2004 der in zwei Halbbänden geteilte 6. Band. Letzterer reicht vom Beitrag „Hegemonie“ bis zum Artikel „Justiz“. Insgesamt sind etwa fünfzehn Bände vorgesehen. Vollständig dürfte das HKWM, das jetzige Tempo seine Erarbeitung unterstellt, etwa 2020 vorliegen.

Die bisher erschienenen Bände entstanden angesichts von kaum für lösbar gehaltenen personellen und finanziellen Problemen. An die widrigen Umstände, unter denen die bisherigen Bände des HKWM zustande kamen, erinnerte einleitend auch Hermann Klenner in seinem Vortrag, den er vor der gut besuchten Zusammenkunft des „Marxistischen Forums“ hielt. Die „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ etwa habe das Werk bis heute nicht unterstützt. Deshalb sei es geradezu ein „Wunder“, dass nach dem Verschwinden des europäischen Realsozialismus ein solches Werk wie das HKWM überhaupt begonnen wurde und inzwischen bereits auf mehrere Bände zurückblicken kann. Klenner hält dieses Werk, wie auch die Weiterarbeit an der MEGA, für das „Größte“, was nach 1990 in Deutschland gesellschaftstheoretisch zustande kam. Wer darauf verzichte, diese „intellektuellen Großprojekte“ zur Kenntnis zu nehmen, verzichte auf einen Teil seiner geistigen Potenzen. Das gelte leider auch für führende PDS-Politiker, wie etwa Lutz Ramelow, der über soziale Gerechtigkeit referiere, ohne sich mit dem hierzu im HKWM vorgestellten Wissen auseinanderzusetzen oder dieses überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Insofern führe man bis heute auch Praktiken der DDR-Kulturpolitik fort, die der sozialistischen Bewegung stets geschadet hätten. In der DDR wäre Haug auch wegen seiner kritischen Sicht des damals dort offiziell vorgetragenen und praktizierten Marxismus-Leninismus nicht wahrgenommen, ja abgewiesen worden. In dem 1982 in der DDR erschienenen „Philosophen-Lexikon“ wurden beispielsweise weder Wolfgang Haug noch etwa Hans Heinz Holz eines Artikels für würdig befunden.

An die Ausführungen Klenners schloss sich eine lebhafte Diskussion an, in der alle Teilnehmer dafür plädierten, das Projekt HKWM nach Kräften zu unterstützen (so z.B. Rolf Hecker oder Klaus Höpke). Kurt Pätzold unterstrich dies mit dem Hinweis, dass derzeit selbst bei Jugendlichen, die gegenüber dem Kapitalismus kritisch eingestellt seien, das dafür erforderliche theoretische Instrumentarium in rapider Weise in Vergessenheit gerate. Er regte an, die im HKWM abgehandelten Schlüsselbegriffe eventuell als gesonderte Broschüren zu publizieren. Das wurde auch von dem Referenten lebhaft begrüßt, der generell dafür eintrat, marxistische Positionen auch in kleineren Heften vorzustellen. Der Ästhetiker Günter Mayer, der eng mit Haug zusammenarbeitet, nannte das HKWM eine intellektuelle Herausforderung, was auch gebiete, die das Projekt begleitenden Veranstaltungen stärker als bislang zu besuchen.

Der Historiker Rolf Dlubek informierte über den Stand der Arbeit an der MEGA, also über das von Klenner hervorgehobene zweite intellektuelle „Großprojekt“ der heutigen Marxismusforschung. Während im Rahmen der MEGA ca. 70 geplante Bände noch ausstehen, seien bislang aber etwa 50 Bände bereits erschienen. Das sei nicht zuletzt auch dank der finanziellen und intellektuellen Hilfe von Menschen möglich gewesen, die selbst keine Marxisten seien. Die These von der „Unversöhnlichkeit der Ideologien“ sei nicht zuletzt deshalb neu zu befragen.

Erich Hahn informierte abschließend über eine weitere Tagung des 6. Parteitags der PDS, die Ende Oktober 2004 in Potsdam stattfand. Er hob das große Engagement hervor, mit der sich die gesamte PDS insgesamt für eine Wahrung und Verbesserung der sozialen Lage der deutschen Bevölkerungsmehrheit einsetze. Er verwies besonders auf den geschlossenen Widerstand dieser Partei gegen die sozialen Zumutungen von Hartz IV. Es sei aber zugleich deutlich geworden, dass in der PDS das Bestreben wächst, sich als eine vorwiegend oder ausschließlich parlamentarisch tätige Partei zu begreifen. Hans Modrow habe zurecht in der PDS eine in diese Richtung drängende „neue Funktionärs- und Führungs-Elite“ ausgemacht. Indes dürfe eine konstruktive Mitarbeit in den Parlamenten, die politisch richtig und sogar unerläßlich sei, nicht dazu führen, das Bemühen um außerparlamentarischen Zuspruch und entsprechende Aktionen zu minimalisieren. So schade es etwa dem Ansehen der PDS in breiteren ostdeutschen Bevölkerungsschichten, wenn Dagmar Enkelmann, Landtagsabgeordnete dieser Partei, den Beitrag einer jungen Fraktionskollegin abkanzelte: Die junge Abgeordnete, Gewinnerin eines Direktmandats, hatte im Parlament über ihre glückliche und sorgenfreie Kindheit in der DDR berichtet. Symptomatisch an diesem Fall sei auch, wie zaghaft viele PDS-Parlamentarier ihre in der DDR gewonnenen sozialen Erfahrungen politisch nutzen, vielmehr trage ihr Schweigen und Verschweigen oft genug dazu bei, Errungenschaften der DDR und ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen aus dem heutigen politischen Diskurs zu verdrängen. Die heute weithin akzeptierten Vorzüge des DDR-Bildungssystems gegenüber dem westdeutschen wurden ja vor allem durch Kreise außerhalb dieser Partei bundesweit bekannt.