Antiimperialismus heute

Offener Brief an "die Linke" anlässlich ihrer mangelnden Solidarität mit der Volksbewegung im Iran

März 2010

19. Juli 2009

Liebe Genossinnen und Genossen,

viele Iraner im In- und Ausland vermissen Eure Solidarität mit dem großartigen Widerstand der Menschen gegen die Theokratie in der Islamischen Republik Iran. Nicht nur, dass Ihr dieser selbstorganisierten und friedlichen Bewegung, die durch Mut und kreative Aktionen die Welt überrascht hat, fast gleichgültig gegenübersteht und Ihr Eure Medien und websites eher den Gegnern dieser Bewegung zur Verfügung stellt. Einige von Euch streuen sogar Sand in die Augen derjenigen, die sich hinter die Massenbewegung stellen, um sie gegen die ungeheure Gewalt der Theokratie zur Fortsetzung des Widerstands zu ermutigen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – die Adressaten dieses Offenen Briefes sind alle diejenigen Linken, die man auch eindimensionale Antikapitalisten nennen könnte. Sie reduzieren den ganzen Marx, ja die ganze Welt, auf Lohnarbeit und Kapital und den Kapitalismus darauf, dass er auf Ausbeutung beruht und dass erst durch seine Abschaffung alle Probleme der Welt beseitigt würden und dadurch für die Menschheit die Epoche des ewigen Glücks ausbrechen würde. Auf dieser reduktionistischen Vereinfachung der Welt und naiven Illusion beruht m. E. die Neigung, Machtbeziehungen, kulturelle Potenziale, Einfluss von Tradition, Religion und viele andere Faktoren auszublenden und die Gegenwart und Geschichte ahistorisch nach eigenen Vorstellungen zurechtzubiegen. Der aktuelle Fall gibt mir die Gelegenheit zu einer grundsätzlichen Problematisierung dieses verengten Blickes auf die Welt, weit über den Iran hinaus.

Das theokratische Regime im Iran hat – um auf den Anlass meines Offenen Briefes zurückzukommen – nach dem offensichtlichen Wahlbetrug, mit dem ich mich weiter unten eingehender befassen werde, mindestens 50 Tote auf dem Gewissen, es schickte die gesamten Kader der Reformbewegung, fast alle namhaften kritischen Journalisten und Hunderte Menschen, die den Wahlbetrug vom 12. Juni 2009 nicht hinnehmen wollten, in die Gefängnisse. Und dennoch hüllt Ihr Euch, liebe Genossinnen und Genossen, in Schweigen oder publiziert gar Pamphlete zur Unterstützung der theokratischen Führung. Im Folgenden einige Beispiele:

„SandimGetriebe“ (SiG), das Internet-Journal der globalisierungskritischen Bewegung Attac, hielt es in seiner Ausgabe Nr. 74 für überflüssig, mit einer Auswahl aus den zahlreich verfügbaren Beiträgen ihre Leser über die Hintergründe der Wahl im Iran und deren Folgen zu informieren. Stattdessen publizierte es mehr oder weniger als Alibi einen windelweichen, schon vor der Wahl verfassten Aufruf iranischer Akademiker aus Großbritannien und den USA vom 8. Juni, um so um den aktuellen Konflikt einen großen Bogen zu machen.

Die „Arbeiterfotografie“, um ein weiteres Beispiel selektiver Wahrnehmung - die außerdem noch mit gezielter Diffamierung von Andersdenkenden angereichert ist – zu erwähnen, stellt in ihrer website (http://www.arbeiterfotografie.com/iran/index-iran-0000.html) die von anderen und mir wiedergegebenen Zahlen, welche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Wahrheit des Wahlausgangs am 12. Juni im Iran näher liegen, in eine Reihe mit Stellungnahmen von CIA und Mossad. Die von den betrogenen Präsidentschaftskandidaten Mussawi und Rezai auf ihrer website veröffentlichten Zahlen sind für die „Arbeiterfotografie“ kein Beleg für den Wahlbetrug, weil sie „anonym aus dem Innenministerium“ herausgeschleust wurden. Sie verlässt sich demnach lieber auf die offiziellen Angaben des Innenministeriums der Islamischen Republik, das nach Auffassung der Opposition für die Fälschung verantwortlich ist. Ist denn aber die Tatsache, dass am 23. Juni 3 Millionen Menschen in Teheran gegen den Wahlbetrug auf die Straße gegangen sind – übrigens mit dieser Stärke in der 10-Millionen-Metropole die größte Demonstration in der iranischen Geschichte – während Ahmadinedschad, trotz des Missbrauchs aller staatlichen Medien, nur „läppische“ 0,5 Millionen zu einer Gegendemonstration mobilisieren konnte, nicht ein handfester und lebendiger Beleg, der die „Arbeiterfotografie“ eigentlich zufrieden stellen müsste? Selbst Ayatollah Khamenei hat bei seiner Freitagspredigt am 19. Juni „Unregelmäßigkeiten“ nicht ausgeschlossen. Die „Arbeiterfotografie“ hat offenbar aber keinen Zweifel daran, dass Ahmadinedschad die Wahl wirklich gewonnen hat. (…)

Ein weiteres Beispiel für die Haltung eines Teils der Linken ist die Zeitung „Junge Welt“. Sie veröffentlicht überwiegend pro-Ahmadinedschad- und Anti-Volksbewegungs-Beiträge. In Ihrer Ausgabe vom 26.06.2009 ließ sie Esam Al-Amin - einem auch unter Orientalisten unbekannten Autor - viel Raum für die Rechtfertigung der Rechtmäßigkeit der offiziell verkündeten Wahlergebnisse. In seinem Beitrag versucht der Autor nicht nur, das antidemokratische Wahlverfahren des Aussiebens von Kandidaten durch den Wächterrat als durchaus mit Wahlverfahren im Westen vergleichbar zu rechtfertigen, obwohl der Ausschluss vieler Kandidaten stets auf der Basis des beliebig dehnbaren Kriteriums unislamisch stattfindet. Der Autor bemüht sich darüber hinaus auch akribisch darum, die offiziellen Angaben des Regimes argumentativ zu stützen. Das einzig seriöse Argument in Al-Amins Beitrag für die Echtheit der offiziell verkündeten Ergebnisse sind die Wahlprognosen, in denen Ahmadinedschad immer die Nase vorn hatte. Zum einen nimmt der Autor Bezug auf eine mehrere Wochen vor der Wahl durch das Center for Public Opinions im Auftrag von BBC und ABC-News durchgeführte Prognose, in der Ahmadinedschad landesweit einen Vorsprung von 2:1 gegenüber Mussawi gehabt haben soll. Indem aber der Autor - der den Eindruck eines Kenners der iranischen Innenpolitik suggeriert – die Tatsache unterschlägt, dass der für das Wahlergebnis entscheidende Stimmungswechsel für Mussawi in den letzten zwei Wochen vor dem Wahltag stattfand, der wellenförmig von Teheran aus bis in die entlegensten Gegenden Irans hinüberschwappte, führte er die Öffentlichkeit hinters Licht. Die Tatsache des kurzfristig spontanen Stimmungswechsels erklärt sich aber dadurch, dass die durch die Theokratie ausgeschlossene Zivilgesellschaft und große Mehrheit der Bevölkerung erst kurz vor der Wahl und nachdem sie intuitiv ihre Chance witterten, der Theokratie eins auswischen zu können, sich zu Gunsten des ihr als glaubwürdig erscheinenden Außenseiters Mussawi entschieden. Maßgeblich für den Stimmungswechsel war letztlich, nach übereinstimmenden Berichten aus dem Iran, das Fernsehduell, das erst 3 Tage vor der Wahl stattfand.

Zum anderen bezieht sich der Autor auf dreißig Umfragen, die die „Iranian Labor New Agency“ über mehrere Wochen vor der Wahl durchgeführt haben soll. Dabei erwähnt er zwar, dass die Ergebnisse dieser Umfragen sehr stark variieren, unterschlägt jedoch, dass diese Prognosen sich zu Gunsten von Mussawi veränderten, je näher die Umfragen an den Wahltermin heranrückten. Für den Autor ist diese Beobachtung jedoch unerheblich, er bildet aus allen dreißig Umfragen schlicht den Mittelwert, um wie vorherbestimmt zu behaupten, dass in den Umfragen „in jedem Fall Ahmadinedschad führte“. Gern würde ich wissen, wer sich hinter dem edlen arabischen Namen Esam Al Amin (Amin bedeutet „vertrauenswürdig“) tatsächlich verbirgt, den die „Junge Welt“ als Kronzeugen für „unbewiesene Anschuldigungen“ präsentiert, auf den sich weit und breit dann alle anderen Gleichgesinnten bezogen haben. In ihrer Ausgabe vom 11. Juli ging die „Junge Welt“ sogar so weit, dem Botschafter der Islamischen Republik Sheikh Attar in einem Interview mit unkritischen Fragen und ohne Kommentar eine Plattform für die Nacherzählung der offiziellen Version der Wahlergebnisse zu liefern.

In ihrer Ausgabe vom 17. Juli stellt ferner die „Junge Welt“ im Debattenteil pointiert zwei Beiträge zum Iran gegenüber, einerseits das Plädoyer von Pedram Shahyar und mir „Die Bewegung für Demokratie und Emanzipation mit voller Kraft unterstützen“ und andererseits das Plädoyer „Nein zum Krieg gegen Iran“ von „Stop War on Iran“ (einer Friedensgruppe in den USA). Damit wird suggeriert, dass sich „Nein zum Krieg“ und „Ja zum Widerstand gegen die Theokratie“ ausschließen. Richtig ist aber genau das Gegenteil. Denn nur eine demokratisch gewählte Regierung mit der größtmöglichen Zustimmung des Volkes kann die Dämonisierung des Iran und die psychologische Kriegsvorbereitung durch Israel und die Neokonservativen am wirkungsvollsten verhindern, während ein populistischer Präsident und Repräsentant der Theokratie wie Ahmadinedschad mit seinen provokativen Äußerungen Irans Gegnern die stärkste Waffe in die Hand gibt, um mit ihrem Säbelrasseln weiterzumachen. Die Theokratie im Iran fürchtet sich nicht vor einem Krieg, vielmehr verspricht sie sich eine Stärkung ihrer Macht und Legitimation. Das iranische Volk fürchtet sich jedoch sehr wohl vor einer Irakisierung Irans. Ein demokratisch gewählter Präsident würde und müsste daher alles tun, um den Kriegstreibern keine Handhabe zu liefern, einen Krieg gegen den Iran in der internationalen Öffentlichkeit als legitim hinzustellen. Nicht ohne Grund wünschen sich nach übereinstimmenden Berichten Netanyahu und die US-Neocons Ahmadinedschad weiterhin als Feindbild und nicht eine lebendige Demokratie im Iran.

Die oben erwähnten Beispiele für das Verhältnis der eindimensional antikapitalistischen Linken beschränken sich nicht auf Deutschland. Man findet sie weltweit. Beispielsweise haben in der US-amerikanischen und der kanadischen Linken aus dem Umfeld von Monthly Review beispielsweise James Petras, Jeremy Hammond u. a. für Ahmadinedschads „angeblichen“ Wahlsieg Partei ergriffen.

Aufschlussreich sind auch Reaktionen auf das von Pedram Shahyar und mir verfasste Plädoyer „Die Bewegung für Demokratie und Emanzipation im Iran mit voller Kraft unterstützen“ (s. website von attac). Eine Genossin schrieb mir daraufhin über ihre tiefe Skepsis gegenüber der iranischen Volksbewegung und ihren Führungspersonen folgendermaßen: „Ich gehöre zu denjenigen, die im Winter 1978/79 gegen das Schah-Regime demonstriert haben. Damals habe ich gehofft, dass die Menschen im Iran eine echte Befreiung durchsetzen. Die Geschichte hat mich eines Schlechteren gelehrt. Ich wünsche den Iranern, dass nichts dergleichen wieder geschieht. Darum ist es wichtig zu schauen, wer an der Spitze der Bewegung steht.“

Gewiss, man kann für die Verunsicherung mancher angesichts der enttäuschten Erwartungen von damals im Iran, der Versuche der CIA in den letzten Jahren, in Osteuropa „orangene Revolutionen“ zu entfachen und der erklärten Ansicht der Neokonservativen, im Iran einen Regime Change herbeizuführen – tatsächlich hatte die Bush-Regierung 400 Mio. US-Dollar dafür bereit gestellt – Verständnis haben. Gleichwohl wird in der hier zitierten Begründung auch das Grunddilemma offenbart, warum die eindimensional antikapitalistische Linke immer wieder scheitert und sich selbst der Politikfähigkeit beraubt, und das nicht nur in ihrem Verhältnis zu internationalen Emanzipationsprozessen, sondern auch im eigenen Land. Die Richtschnur für die Solidarität der Genossin mit dem iranischen Volk vor dreißig Jahren war die Hoffnung, so sagt sie es selbst, „auf eine echte Befreiung der Iraner“, die damals jedoch nicht in Erfüllung gegangen ist und daher vermutlich jene Enttäuschung bei ihr hervorrief, die sie heute davon abhält, den Fehler zu wiederholen. Man hoffte damals - mit anderen Worten - auf eine sozialistische Revolution, heraus kam aber eine islamische! Nein, noch einmal darauf hereinzufallen, dass die Iraner nicht meine Erwartungen erfüllen und – nachdem sie damals bloß die Monarchie stürzten, statt die sozialistische Revolution auszurufen und heute schon wieder dabei sind – statt für den Sozialismus zu streiten, einem Mussawi nachzulaufen, der bestenfalls die Hindernisse für die Demokratisierung der Islamischen Republik hinwegfegen will – nein, das will und kann doch niemand von mir verlangen!

Und wenn schon die Iraner nicht in der Lage sind, einen lupenreinen Sozialismus auf die Beine zu stellen, dann muss es wenigstens ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts sein, den Hugo Chavez praktiziert, womit wir wieder bei Chavez’ Freund Ahmadinedschad wären, der - anders als der „liberale“ Mussawi - von sich behauptete, „Diener und Straßenkehrer der Nation“ zu sein und die Ölmilliarden auf die Essenstische der Armen bringen zu wollen. Damit ist der rote Faden für die Rechtfertigung der ablehnenden Haltung gegenüber einer Volksbewegung gestrickt, die Ahmadinedschad zu Fall bringen will. Dabei kommt allerdings nicht nur zum Vorschein, dass man ein Volk der Dritten Welt durch Solidaritätsentzug bestraft, weil es nicht das vollbringt, wozu man selbst zu Hause nicht in der Lage ist, es offenbart auch die Konsequenz, letztlich bei der Solidarität mit Ahmadinedschad zu landen. (…)

Ihr steckt, liebe Genossinnen und Genossen, ich muss das leider so hart sagen, in einem Legitimationsdilemma. Euch fällt es offensichtlich nicht leicht, für einen Präsidenten Ahmadinedschad offen Partei zu ergreifen, der wenig vorzuweisen hat, in der Innen- wie Außenpolitik gescheitert ist und der versucht, durch die Plünderung der Staatskasse Almosen unter den Armen zu verteilen, um wiedergewählt zu werden und die Macht zu behalten. Die Lösung, aus diesem Rechtfertigungsdilemma herauszutreten, ist ziemlich naheliegend: den Gegenkandidaten Mussawi als einen vom Westen gesteuerten Liberalen hinzustellen, den Ihr außerdem auch für alle Verbrechen des Regimes vor 20 Jahren mitverantwortlich macht, weil er damals Ministerpräsident der Islamischen Republik war. Dafür greift Ihr gerne auf Pamphlete von Gleichgesinnten Iranern zurück, die ihr ungeprüft über Eure websites oder andere Medien verbreitet, in denen „Gräueltaten“, die Mussawi zugeschrieben werden, breitgetreten werden.

Als Beispiel sei hier nur der Text von Bahman Shafigh „Da ist kein zweiter Mandela. Über die ‚Grüne Welle’ im Iran und über Mussawi“ in der online-Zeitung trend 06/09 (http://www.trend.infopartisan.net/trd0609/t770609.html) genannt, auf den sich inzwischen viele von Euch beziehen. Shafigh – ich verweise im folgenden des öfteren auf ihn als einen iranischen Typus von eindimensional antikapitalistischen Linken - hat als Angehöriger des linken Widerstands, wie er glaubwürdig darstellt, übrigens wie alle anderen Gegner der Islamischen Republik auch, in den nachrevolutionären Ära der 1980er Jahre ganz sicher gelitten. Shafigh und alle Menschen, denen Unrecht und Leid widerfahren ist, haben so oder so einen Anspruch auf Entschuldigung. Diese wird sicherlich auch ausgesprochen werden müssen, sollte Mussawi direkt oder indirekt die Verantwortung für das Leid an anderen nachgewiesen werden.

Euer Problem, liebe Genossinnen und Genossen, ist aber, dass Ihr Schuldzuweisungen Einzelner einen größeren Stellenwert beimesst als dem Urteil eines ganzen Volkes, das selbst unter der theokratischen Herrschaft eines Ahmadinedschad leidet und das bei Abwägung aller Faktoren sich unter besonderen historischen Bedingungen letztlich entschieden hat, Mussawi die Stimme zu geben. Wie man Eure Sicht und Haltung auch dreht und wendet, Euer grundsätzliches Problem ist die Selektion der Fakten, die ihr jenseits des historischen Kontextes ganz beliebig, ahistorisch und nach eigenem Gutdünken nach dem Muster zusammenbastelt: Es ist nicht, was nicht sein darf und es muss so sein, wie ich persönlich es mir ausmale.

Mit dieser Methode geht Ihr mit allen Entwicklungen in der Welt und mit allen Reformen um, die dem idealistisch zurechtgebastelten Bild in Euren Köpfen nicht entsprechen. Demnach irrt sich nicht nur das iranische Volk, sondern es irren sich auch Obamas Anhänger in der ganzen Welt, weil Obama oft anders tickt - mit Hinblick auf sein gesamtes Umfeld, das sich aus lauter Feinden, die ihn zur Strecke bringen wollen, zusammensetzt, ja auch anders ticken muss. In der „jungen Welt“ lasst Ihr beispielsweise genau nach diesem ahistorisch idealistischen Wahrnehmungsmuster an Obama kein gutes Haar, egal was er macht, obgleich dieser - nach einer ganzheitlich-historischen Betrachtung und mit Hinblick darauf, dass er eine gefährliche Clique in den USA abgelöst hat, die die Welt in Chaos, Krieg und Unsicherheit stützte - in Wirklichkeit ein Glücksfall für die Menschheit ist. Diese selektive Methode des Umgangs mit der Wirklichkeit ist im Übrigen nicht nur Linken, sondern allen handelnden Akteuren zueigen, die bloß ihre Handlung rechtfertigen wollen. Beispielsweise haben neoliberale Ideologen über Jahrzehnte mit Hilfe von selektiv aus dem Kontext herausgelösten und zusammengebastelten Fakten den Menschen in den kapitalistischen Ländern – leider mit Erfolg - den Unsinn eingeredet, dass für mehr Beschäftigung erst einmal Arbeitsplätze vernichtet werden müssten.

Ihre von mir beschriebene ahistorisch idealistische Methode mag auch erklären, warum die eindimensional antikapitalistische Linke sich in den kapitalistischen Staaten ständig jedweder Handlungsfähigkeit beraubt, substanzielle Reformen in Gang zu setzen, dass sie beispielsweise über Massenarbeitslosigkeit und den Hartz IV-Skandal nur jammert, sich aber lieber mit diesem abfindet als für eine Vollbeschäftigung durch Arbeitszeitverkürzung mit gewissen Zugeständnissen an den Mittelstand – somit also durch eine kleine Abweichung von der antikapitalistischen Maximalforderung - einzutreten und Wege zu beschreiten, die Reformen möglich machen und die Menschen vom Elend der Arbeitslosigkeit befreien könnten. Außerdem ist diese Linke trotz der größten Wirtschaftskrise nicht in der Lage, durch gesellschaftliche Kampagnen Mehrheiten für die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit zu schaffen, weil sie glauben, endlich einen Grund zu haben, zu allererst für die Beseitigung des Kapitalismus eintreten zu müssen. Das Ergebnis dieses naiven Ansinnens allerdings ist, dass sie das politische Vakuum, das mangels realistischer Alternativen zum Kapitalismus entsteht, den Neoliberalen überlassen, die - obwohl sie mit ihrer Ideologie von Deregulierung und Liberalisierung die Krise erst hervorgerufen haben – somit erst in die beneidenswerte Lage versetzt werden, eine Wahl nach der anderen zu gewinnen. Mich wundert es jedenfalls inzwischen nicht mehr, warum die Linke auch in den 1920er Jahren vor und während der ersten Weltwirtschaftskrise handlungsunfähig blieb und mit der ahistorischen Annahme, die Abschaffung des Kapitalismus stünde bereits auf der Tagesordnung, statt eine breite Allianz von Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen zu schmieden, die Sozialdemokraten zur Zielscheibe ihres Kampfes machten, um dann folgerichtig das Feld dem Faschismus zu überlassen.

Von solchen wichtigen und weniger wichtigen Beispielen für das Scheitern ahistorisch denkender und handelnder Linker gibt es sicherlich auch noch weitere. Jedenfalls weist das Handlungsmuster der eindimensional antikapitalistischen Linken in Bezug auf den Iran von heute große Ähnlichkeit mit den oben genannten Fällen auf, wenn man bedenkt, dass sie es offensichtlich für ratsamer halten, der Theokratie von Khamenei und Ahmadinedschad gegenüber der Volksbewegung einer breiten anti-theokratischen Front aus Laizisten und islamischen Reformern den Vorzug zu geben. Ist es denn so schlimm, Genossinnen und Genossen, wenn Frauen und Männer nur gegen ihre Bevormundung streiten und sich nach Freiheit für individuelle Lebensstile sehnen, ist es nicht unterstützenswert, wenn Journalisten nur für die Freiheit in ihrem Beruf und dagegen demonstrieren, dass ihre Zeitungen willkürlich verboten werden, ist es denn nicht gut genug, wenn Arbeiter für freie Gewerkschaften, für die ungehinderte Gründung von Parteien auf die Straße gehen und für alle ihre Wünsche, sich vorerst darauf beschränken, die Islamische Republik nur demokratisieren zu wollen?

Die iranischen Linken des Typs der bereits erwähnten Bahman Shafigh und nicht nur er, sondern auch Abolhassan Banisadr, der vor 29 Jahren abgesetzte erste Präsident der Islamischen Republik, die Volksmudschaheddin und die Monarchisten mit Sitz in Washington, sie alle haben die Iraner stets zum Wahlboykott aufgerufen. Dies taten sie mit dem Argument, jede Stimme erhöhe die Legitimation des Systems im Iran, auch bei der letzten Wahl und unabhängig von den Chancen, die sich gerade durch die Teilnahme an den Wahlen ergeben könnten. Jetzt sind sie enttäuscht, dass das Volk mit überwältigender Mehrheit zur Wahl ging und nicht ihnen, sondern den islamischen Reformern gefolgt ist. Tatsächlich lag das Volk aber mit seiner intuitiven Reflexion der politischen Situation für die Durchsetzung der eigenen Ziele im Unterschied zu den Wahlboykotteuren goldrichtig. Mit der klugen Intervention durch die Teilnahme an der Wahl haben die Menschen es geschafft, das System der Theokratie und die Autorität von dessen Repräsentanten Ayatollah Khamenei und Ahmadinedschad grundlegend zu erschüttern und zu delegitimieren. Shafigh, Banisadr, die Volksmudschaheddin und der selbsternannte Monarch Reza Pahlawi lagen alle mit ihrer Entscheidung daneben, weil sie anderen Motiven folgten als die Menschen auf dem Schauplatz in der Heimat. Shafigh geht es um das edle Ziel einer sozialistischen Revolution, Banisadr darum, den ihm genommenen Posten zurückzuholen, die Volksmudjaheddin, um ihre „links-islamische“ Herrschaft (Gott bewahre uns gerade vor dieser Herrschaftsvariante!) und Reza Pahlawi, weil er immer noch davon träumt, das Rad der Geschichte mit Hilfe der USA zurückdrehen zu können. (…)

Nicht ohne Grund scheiterte die durchaus traditionsreiche und auch politisch starke iranische Linke kläglich, obwohl sie zum Sturz der Pahlawi-Monarchie auch ein wenig beigetragen hat. Nicht ohne eigene Mitschuld wanderten Teile von ihnen in den Untergrund oder machten sich zum Handlanger der Theokratie. Sie, die iranische Linke, hat - ganz in eindimensional antikapitalistischer Manier – nichts Besseres gewusst, als nach dem Sturz der Monarchie den ersten Ministerpräsidenten, den radikal-liberalen Bazargan und seine islamische Freiheitsbewegung, zur Hauptzielscheibe ihrer politischen Aktivitäten zu machen, ihn als Repräsentanten der iranischen Bourgeoisie zu brandmarken, anstatt mit diesem und allen anderen politischen Kräften aus dem bürgerlichen Lager zusammen der Entstehung der Theokratie entgegenzutreten und der Demokratisierung der Gesellschaft eine Chance zu geben. Ähnlich bekämpfte die Tudeh-Partei – die Mutter aller iranischen Linken und seinerzeit die größte KP im Mittleren und Nahen Osten – Anfang der 1950er Jahre Mossadegh, den ersten demokratischen Ministerpräsidenten und die erste durch und durch demokratische Persönlichkeit im Iran und der Region überhaupt, bis aufs Messer. Sie beschuldigte Mossadegh, mit seinem Programm der Nationalisierung des Erdöls im Interesse der USA zu handeln und trug nicht unwesentlich zur Schwächung eines unter massivem internationalen Boykott stehenden Politikers bei, der seinen Zielen: parlamentarische Demokratie und nationale Souveränität bis zum Ende treu blieb und 1953 durch einen CIA-Putsch gestürzt wurde.

Das iranische Volk hatte 1979 keine andere Wahl, als der Monarchie mit seinem 1953 durch den CIA-Putsch auf den Thron gehievten narzistischen Schah ein Ende zu setzen. Für die Revolution, die bald islamisch wurde, muss sich dieses Volk weder bei iranischen noch internationalen Linken entschuldigen. Die islamische Theokratie wuchs nach der Revolution zunächst auf dem Trümmerhaufen eines erbittert geführten Kampfes zwischen Khomeini-Anhängern, den links-islamischen Volksmudschaheddin und linken Volksfedayin – allesamt mit ihrem jeweils unerschütterlichen Alleinvertretungsanspruch darauf, was Wahrheit ist. Für die Festigung der Theokratie und die Säuberung aller Gegner sorgte dann der acht Jahre andauernde Irak-Iran-Krieg.

In seiner bisherigen Geschichte erlebte die iranische Gesellschaft also lediglich nur während der goldenen Demokratie-Jahre der Mossadegh-Ära (1951-1953) freie Presse, freie Parteien, freie Wahlen und unabhängige Gewerkschaften. Ohne neue und wichtige Erfahrungen, die alle soziale Gruppen und Individuen in Freiheit und nur unter den Bedingungen von Freiheit machen können, dürfte es unmöglich sein, in einem Dritte-Welt-Land wie dem Iran, Emanzipationsziele wie Autonomie, Einkommens- und Vermögensgerechtigkeit durch Chancengleichheit, Kooperation und freie Assoziation der Bürger, also Ziele, die über den Kapitalismus hinausgehen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu verwirklichen. Im kapitalistischen Westen sind alle diese Vorbedingungen gegeben, die im Iran erst hergestellt werden müssten. Die Linke sollte sich zuallererst mit den Zielen der iranischen Volksbewegung gegen die Theokratie - die historisch zweifelsohne auf der Tagesordnung steht – uneingeschränkt solidarisieren. Dann sollte sie sich aber auch gelegentlich fragen, warum sie zur Erreichung weitergehender Emanzipationsziele in den eigenen Ländern nicht weiterkommt.

Der aktuelle Anlass meiner Kritik der Philosophie und Haltung der eindimensional antikapitalistischen Linken ist zwar ihr Umgang mit den gegenwärtigen Veränderungen im Iran. Bei genauerer Betrachtung der historischen Ereignisse erweisen sich jedoch überall und unabhängig von Raum und Zeit die fatalen politischen Folgen jenes naiv-ahistorischen Antikapitalismus als ein genuin gemeinsames Merkmal und als ein roter Faden in der Geschichte dieser linken Gruppen und Parteien: In den 1920er Jahren profitierten davon die Faschisten, in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise die Neoliberalen, in den 1950er Jahren die USA mit ihren verbündeten Militärdiktaturen im Iran und dem gesamten Mittleren und Nahen Osten und in den 1980er Jahren die islamischen Theokraten. Die Überreste dieser Linken tragen zwar auch heute zur Entsolidarisierung mit dem friedlichen Widerstand im Iran bei, sie sind jedoch weder im Iran noch international stark genug, um der Weiterentwicklung der Demokratie im Iran in nennenswertem Umfang Schaden zufügen zu können. Doch scheinen sich auf dem Scherbenhaufen, den die eindimensional antikapitalistisch linken Strömungen hinterließen, Gegenbewegungen zu entwickeln. Ein leuchtendes Beispiel sind die Revolutionären Marxisten in Venezuela, die in ihrer aktuellen Stellungnahme vom 12. Juli 2009 „Solidarität mit der iranischen Massenbewegung“, fernab vom Iran, die venezuelanische Bevölkerung und nicht nur sie mit einer äußerst differenzierten Analyse über die schädliche Unterstützung von Hugo Chavez für Ahmadinedschad aufklären, sondern sich auch mit der Konfusion der internationalen Linken kritisch auseinandersetzen. (http://www.zmag.org/znet/viewArticle/21972

Dieser Offene Brief hat notwendigerweise keinen Platz für eine ausführlichere Darlegung einer Reihe meiner Thesen, die darin nicht hinreichend vertieft werden konnten.

Zur Ergänzung sei auf folgende Auswahl meiner aktuellen und grundlegenderen Publikationen hingewiesen:

Irans wirtschaftliche Misere, in: INAMO, Nr. 54 (Sommer 2008)

30 Jahre Islamische Revolution: Fortschritt, Rückschritt, Stillstand, in: INAMO, Nr. 58 (Sommer 2009)

Was das Volk auf die Strasse treibt, in: Freitag online vom 22.06.2009

Die Theokratie gerät ins Wanken, in: Der Freitag vom 16.07.2009 (Kurzversion) und in: Freitag online vom 16.07.2009 (Langversion)

Vollbeschäftigungskapitalismus, in: Widerspruch 56, 2009.

2006: Kapitalismus, Machtungleichheit, Nachhaltigkeit. Perspektiven revolutionärer Reformen, Hamburg