Weltordnung zwischen Multipolarität und Chaos
Seit dem Ende der US-Hegemonie in den 2010er-Jahren leben wir in einer multipolaren Weltordnung oder bewegen uns zumindest in diese Richtung – so wird die aktuelle geopolitische Situation zumeist dargestellt. Mit der brutalen Wirklichkeit aber hat dies wenig zu tun – denn von einer wie auch immer gearteten globalen ›Ordnung‹ kann derzeit nicht die Rede sein.
Der Bericht zur Münchner Sicherheitskonferenz von 2025 – mehr denn je ein Euphemismus, denn es geht um Aufrüstung – diskutiert das Konzept der Multipolarität ausführlich.1 Diese sei durch zwei Merkmale gekennzeichnet:
Implizit gehört dazu noch ein drittes Merkmal, eben das der ›Polarität‹. Denn von machtpolitischen ›Polen‹ kann nur gesprochen werden, wenn die jeweiligen Akteure der Weltordnung tatsächlich in der Lage sind, zumindest in ihren Einflussbereichen bestimmte Ordnungsvorstellungen durchzusetzen. Dabei geht es natürlich nicht darum, ob diese ›gerecht‹ sind: Multipolarität hat nichts mit Gerechtigkeit bzw. Gleichheit zu tun. Dies wäre nur in einer multilateralen Weltordnung der Fall, die auf Inklusion, Gleichheit und Kooperation basiert, geprägt durch einflussreiche supranationale Organisationen (konkret: die Vereinten Nationen), die die großen Akteure einbinden können. Allerdings sind deren machtlose Reste gerade dabei, sich weitgehend aufzulösen – ein Prozess, der nicht erst seit Trump zu beobachten ist.
Selbst begrenzte Ordnungsprinzipien werden derzeit in allen Weltteilen zunehmend ausgehebelt. Schienen bisher zumindest die USA noch als eine Art ›Pol‹ zu agieren, der das ›westliche Lager‹ zusammenhält, so hat Trumps Leitspruch »Make America Great Again« (»MAGA«) auch hier die Karten neu gemischt: Es gilt »America first«, die USA verstehen sich (und das schon länger) nicht mehr als Ordnungsmacht. Für die übrigen ›Pole‹ (wer außer den USA und China sonst noch dazugehört, ist durchaus unklar)2 gilt das schon lange: Keine der jeweiligen Großmächte ist noch willens oder fähig, als ›Pol‹, d. h. als (wenn auch nur regionale) Ordnungsmacht zu agieren. Viele der in den letzten Jahren ausgebrochenen Kriege zeigen vielmehr, dass die angeblichen ›Akteure‹ der neuen ›Weltordnung‹ nicht bereit oder in der Lage sind, irgendwelche Ordnungsvorstellungen durchzusetzen: Russland und Aserbeidjan/ Armenien, Biden-USA und Israel/Palästina, der ›natural leader‹ Südafrika und Ruanda/Kongo, EU und Türkei/ Syrien: Die Liste von Konflikten, in denen mittlere, kleinere und kleinste Länder ihre jeweiligen Interessen ohne jede Rücksicht mit teilweise exzessiver Gewalt und unter Missachtung völkerrechtlicher Regeln durchsetzen, ohne irgendwelche Konsequenzen seitens ihrer großen ›Verbündeten‹ fürchten zu müssen, ist lang. Die ›großen‹ Akteure haben das immer schon gemacht, bis hin zum Führen von Stellvertreterkriegen. Die US-geführten Angriffskriege nach 1990 (über die sich heute niemand mehr aufregt) und Russlands Krieg gegen die Ukraine waren und sind Teil der jeweiligen ›Weltordnungen‹. Heute aber setzt jedes beliebige Land rücksichtslos seine Interessen durch nach dem Trumpschen Motto: »Wir wollen alles was wir kriegen können«.3 Heute von einer existierenden »regelbasierten internationalen Ordnung« zu schwadronieren, wie es auch wieder im neuen Koalitionsvertrag zu lesen ist,4 ist eher zynisch als naiv.
Denn tatsächlich passiert gegenwärtig genau das, wovor der ›Sicherheitsreport‹ warnt: »Eine multipolare Welt aber darf nicht zu einer Welt werden, in der jeder Pol handelt wie es ihm gefällt, in der die Herrschaft des Rechts sowohl national wie international unbestimmt ist.« (Christoph Heusgen)5 Die Wirklichkeit ist schlimmer: Nicht nur jeder ›Pol‹ tut das, was ihm gefällt (das war genau genommen schon immer so – Recht galt noch nie für die Großen); heute tun selbst kleine Länder das, was ihnen gefällt – und wie es ihnen gefällt. Die vermeintlichen »Pole« schauen jeweils hilflos oder billigend zu.
1 Munich Security Report 2025, Multipolarization, February 2025.
2 Der besagte Report untersucht außerdem die EU, Russland, Indien, Japan, Brasilien und Südafrika.
3 Trump über die Rohstoffreserven der Ukraine.
4 Verantwortung für Deutschland, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 21. Legislaturperiode, Zeile 3965.
5 Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.