Einheitsfrust, stagnierende Konvergenz und politische Ignoranz

Kommentar aus Z 144 (Dezemberheft; Vorabveröffentlichung)

19.11.2025
von Ulrich Busch

Am 3. Oktober wurde der 35. Jahrestag der Deutschen Einheit gefeiert. Einen Redner aus dem Osten aber gab es nicht. Ebenso wenig wie einen »Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit« und eine Zusammenstellung offizieller statistischer Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands. Beides wäre in diesem Jahr fällig gewesen. Statt dessen legte die Ostbeauftragte, Staatsministerin Elisabeth Kaiser, einen Bericht »35 Jahre: Aufgewachsen in Einheit?« vor, welcher eine Reihe persönlicher Statements junger Menschen, eine Fotoserie und den Abdruck dreier Forschungsstudien enthält. Da ausdrücklich betont wird, dass dieser Bericht nicht die Haltung der Bundesregierung widerspiegelt, ersetzt er in keiner Weise den ausstehenden »Jahresbericht«. Der Vorgang aber zeigt dreierlei: Erstens, dass man in der Regierung offenbar dazu übergegangen ist, die deutsche Einheit als Nebensache zu behandeln. Zweitens als eine rein westdeutsche Angelegenheit, wodurch die Ostdeutschen zu Objekten der Politik werden. Und drittens, dass es im Vereinigungs- und Angleichungsprozess kaum mehr Erfolge zu vermelden gibt, weshalb auf einen »Bericht« verzichtet wird und man den Problemen ausweicht, indem man das Format wechselt. Da verwundert es nicht, wenn der jüngsten Forsa-Umfrage zufolge für 75 Prozent der Ostdeutschen im Ost-West-Verhältnis inzwischen »das Trennende« überwiegt und von einem »Zusammenwachsen« keine Rede mehr ist. Die Divergenz spiegelt sich auch in den Wahlergebnissen vom Frühjahr 2025 sowie in den Vorhersagen für die kommenden Landtagswah-len im Osten wider. Vor allem sind es die hohen Stimmenanteile der AfD, die hier beunruhigend wirken. Diese aber sind nicht nur Ausdruck der Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung mit der Innen- und Außenpolitik der Bundesregierung, sondern auch Folge der Enttäuschung und Frustration vieler Ostdeutscher über die anhaltende wirtschaftliche und soziale Diskrepanz zwischen Ost und West.

Tatsache ist, dass auch dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik die verfassungsmäßig gebotene Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West nicht erreicht ist. Vielmehr hinkt der Osten wirtschaftlich wie sozial weiter dem Westen hinterher und erfüllt damit, wenn auch regional außerordentlich differenziert, die Kriterien einer demografisch ausgedünnten und überalterten, wirtschaftlich zurückbleibenden und sozial wie kulturell vernachlässigten Region. Dies lässt sich anhand ausgewählter ökonomischer und sozialer Indikatoren belegen. So verläuft die demografische Entwicklung im vereinigten Deutschland gegensätzlich: Während die Einwohnerzahl im Westen seit 1990 um 10 Prozent auf 67,5 Millionen angestiegen ist, ist sie im Osten um 16 Prozent, auf 12,4 Millionen, gesunken (ohne Berlin). Und der Schrumpfungsprozess setzt sich fort. Einer Prognose des DIW zufolge könnte zum Beispiel Sachsen-Anhalt bis 2070 knapp die Hälfte seiner Einwohner von 1990 verlieren. War der Bevölkerungsrückgang in den 1990er Jahren vor allem eine Folge der Abwanderung, so ist er heute wesentlich auf die höhere Sterbezahl und die niedrige Geburtenzahl zurückzuführen. Beides findet seinen Ausdruck in einer flächendeckenden »Überalterung«.

Zwischen Ost und West besteht nach wie vor ein Abstand hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. So beträgt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in den ostdeutschen Flächenländern derzeit knapp 72 Prozent des Westniveaus. Bemerkenswert ist, dass sich die Ost-West-Differenz im zurückliegenden Jahrzehnt kaum weiter verringert hat. 2024 betrug das BIP je Einwohner in Deutschland im Durchschnitt 50.819 Euro. In Sachsen-Anhalt waren es 36.517 Euro, in Thüringen 36.942 Euro und in Mecklenburg-Vorpommern 37.656 Euro. In den leistungsstärksten westlichen Bundesländern aber lag dieser Wert bei 85.548 (Hamburg), 59.212 (Bayern) bzw. 57.628 (Hessen) Euro. Etwas günstiger verhält sich dies bei der Produktivität (reales BIP je Erwerbstätigen). Hier erreichte Ostdeutschland etwa 84 Prozent des westdeutschen Niveaus, wobei sich die Differenz hauptsächlich aus den transformationsbedingten strukturellen Unterschieden im Verarbeitenden Gewerbe, aus der Kleinteiligkeit und der Absatzschwäche der ostdeutschen Industrie erklärt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Ausrüstungsinvestitionen je Einwohner seit 1991 im Osten unter den im Westen getätigten Investitionen liegen und mit derzeit rund 66 Prozent nur zwei Drittel des westdeutschen Niveaus erreichen. Damit ist auch für die Zukunft vorgegeben, dass der Osten ökonomisch nicht zum Westen aufschließen, sondern weiter hinterher hinken wird.

Die differierende Leistungskraft spiegelt sich nicht zuletzt in den Einkommen wider. So verdienten Vollzeitbeschäftigte im Osten 2024 im Schnitt 50.625 Euro brutto, im Westen aber 63.999 Euro. Die Differenz beträgt 13.374 Euro oder 26 Prozent. Das ist nicht wenig! Über mehrere Jahre addiert und auf die Lebensarbeitszeit hochgerechnet summiert sich der Differenzbetrag auf mehr als eine halbe Million Euro oder den Preis für ein Einfamilienhaus (nach heutigem Marktwert gerechnet). Etwas geringer nehmen sich die Unterschiede bei den verfügbaren Einkommen und bei den Haushaltsnettoeinkommen aus. So erreichte das Haushaltsnettoeinkommen, das sich aus den Einkommen der Haushaltsmitglieder nach Steuern und staatlichen Leistungen zusammensetzt, bereits Mitte der 1990er Jahre vier Fünftel des Westniveaus. Seitdem aber stagniert der Angleichungsprozess, was vor allem auf die anhaltende Lohndifferenz zurückzuführen ist.

Viel größer als die Unterschiede bei den Einkommen sind die Differenzen bei den Vermögen. Auch wenn die Statistik hier beträchtliche Lücken und eine große Intransparenz aufweist, so lässt sich doch konstatieren, dass die ostdeutschen Privathaushalte über weniger als die Hälfte der Geld- und Immobilienvermögen der Westdeutschen verfügen. Die großen Immobilien-und Betriebsvermögen befinden sich im Ergebnis der Treuhandprivatisierung Anfang der 1990er Jahre ohnehin fast vollständig in westdeutscher Hand. Im Jahr 2024 erhielten Westdeutsche rund viermal so hohe Summen durch Erbschaften und Schenkungen wie Ostdeutsche. Dadurch vergrößert sich das West-Ost-Gefälle weiter. Da zudem die Sparquote der ostdeutschen Haushalte nur halb so hoch ist wie die der westdeutschen Haushalte, wird sich die Vermögenslage auch in Zukunft nicht angleichen, sondern eher weiter divergieren. Dieser Trend vollzieht sich als besondere Facette der generellen Vermögensdifferenzierung und Polarisierung in der bundesdeutschen Gesellschaft.

In den zurückliegenden Jahren gab es nicht wenige Versuche, die tatsächliche Entwicklung »schön« zu reden und die objektiven Kriterien der Lebenswirklichkeit in Ost und West durch subjektive Befindlichkeiten, individuell geprägte Wahrnehmungen und Gefühle zu ersetzen. Das hat jedoch wenig genützt: Die Stimmung ist inzwischen gekippt und viele Ostdeutsche begreifen sich weniger als Gewinner denn als Geprellte, Benachteiligte und Betrogene des Vereinigungsprozesses. Politische Irritationen, Fehlwahrnehmungen und die Unterstützung rechtsradikaler Parteien sind die Folgen. Ohne eine für alle spürbare Verringerung des wirtschaftlichen und sozialen Gefälles zwischen den Regionen des vereinigten Deutschlands wird sich diese Problematik nicht beheben lassen. Die Durchführung der Einheitsfeier 2025 ohne eine ostdeutsche Stimme und die Nichtvorlage eines Berichts zum Stand der Deutschen Einheit waren mit Sicherheit die falschen Signale auf dem Weg zur Vollendung der deutschen Einheit.