Gewerkschaften: Zwang zur Re-Politisierung

Vielfalt solidarisch gestalten! – Aber wie?

Überlegungen zur gewerkschaftlichen Re-Politisierung nach dem IG Metall-Gewerkschaftstag

Dezember 2003

Nachdem auf dem ersten, vorgezogenen Teil des Gewerkschaftstages der IG Metall ein neuer Vorstand gewählt werden konnte, ist eine wesentliche Voraussetzung, um zur Sacharbeit zurückzukehren oder, wie Jürgen Peters es nannte, die IG Metall wieder in „ruhigeres Fahrwasser“ zu bringen, erfüllt. Wenngleich Form und Schärfe der Auseinandersetzung um die Auswertung des Arbeitskampfes in Ostdeutschland und die sich anschließende Personaldebatte eigenständige Fragen an die Organisationskultur der IG Metall aufwerfen, liegen die Probleme tiefer als nur im Profilierungsbedürfnis einzelner haupt- und ehrenamtlicher Funktionäre.

Hinter den Auseinandersetzungen verbergen sich im Kern tiefgreifende materielle und ideologische Veränderungen in der Arbeitswelt und der Gesellschaft. Diese Veränderungen sind von der Organisation als Ganzes nicht hinreichend zur Kenntnis genommen worden. Es ist eine Organisationspraxis fortgeführt worden, die die im Folgenden zu skizzierenden Veränderungen nicht ausreichend reflektiert hat. Ohne dabei die von der Presse oktroyierten Muster zwischen „Modernisierern“ und „Traditionalisten“ zu übernehmen, fällt doch auf, dass die von den Medien als „Modernisierer“ apostrophierte Strömung dabei in der Tendenz darauf setzt, die bisher eingeschlagene Politik der nationalen Wettbewerbskoalition fortzuführen und sich nicht ausreichend mit den Veränderungen auseinanderzusetzen. Will die IG Metall wieder umfassend handlungsfähig werden, so muss sie diese Veränderungen nicht nur reflektieren, sondern auf dieser Basis ihre solidarischen Reformkonzepte weiter entwickeln und neue Umsetzungsstrategien thematisieren. Dies soll an den folgenden wesentlichen Problemkomplexen illustriert werden.

I. Wesentliche Problemkomplexe

1. Ausdifferenzierung der Arbeitnehmergruppen und gewerkschaftliche Konsequenzen

Wir müssen eine seit Jahren zunehmende materielle (und damit aber auch verbunden: bewusstseinsmäßige) Ausdifferenzierung der Arbeitnehmergruppen zur Kenntnis nehmen. Zwar erodiert das so genannte Normalarbeitsverhältnis nicht in dem immer wieder diskutierten Umfang, sondern bleibt nominal sogar weitgehend stabil. Gleichzeitig nimmt aber die Zahl prekärer Arbeitsverhältnisse und sonstiger Beschäftigungsverhältnisse (z. B. Scheinselbständigkeit) zu. Zudem müssen wir auch im Rahmen des Normalarbeitsverhältnisses eine sich verstärkende Lohnspreizung bei insgesamt sinkender Lohnquote konstatieren. Dabei konzentriert sich die Mitgliedschaft auf etwas über dem Durchschnitt verdienende Arbeitnehmer. Dies führt dazu, dass eine solidarische, auf mehr Gleichheit setzende Lohnpolitik immer notwendiger wird, während ihre Realisierung immer schwieriger wird: Ohne Zweifel bestünde die Möglichkeit, im Bereich des gewerkschaftlichen Kernklientels wegen seines hohen Organisationsgrades und der dort vorhandenen relativ hohen Produktivität höhere Tarifabschlüsse durchzusetzen, als dies bisher der Fall war. Damit wäre aber – wenn nicht das Gesamtvolumen ausgeweitet würde – ununweigerlich verbunden, andere ArbeitnehmerInnen-Gruppen unterproportional zu bedienen. Dies würde auf die weitere Ausdifferenzierung des Lohnniveaus und auch der Tarifverträge hinauslaufen. Die sich hieraus ableitende Problematik einer noch weiter gespaltenen Arbeitnehmerschaft und damit einer noch weniger schlagkräftigen Gewerkschaft würde auf mittlere Sicht zu Einbußen auch der „besser verdienenden“ Beschäftigten führen.

Gleichzeitig stellt sich die Entscheidungsnotwendigkeit zwischen „solidarischer“ und „differenzierter“ Lohnpolitik umso intensiver, wie der insgesamt vorhandene (politisch definierte) Verteilungsspielraum schmilzt. Gleichwohl: Die Lohnpolitik der IG Metall kann nur so „solidarisch“ sein, wie dies von den kampffähigen Kernklientelen der IG Metall mitgetragen wird. Deshalb steht die Organisation in der Verantwortung, die Debatte um die Tarifpolitik zu politisieren.

Diese Anforderung kann hier nur beispielhaft anhand der materiellen Ausdifferenzierung der Arbeitnehmerschaft verdeutlicht werden. So haben beispielsweise die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit, die wachsende Weltmarktkonkurrenz und die damit verbundenen neuen Unternehmensstrategien von shareholder-value bis zu neuer Arbeitsorganisation nicht minder gravierende Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der IG Metall. Sie bedürfen einer eigenständigen Erörterung.

2. Die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus und Auswirkungen auf die Gewerkschaften

Unter den Bedingungen der ideologischen Hegemonie neoliberalen Denkens ist die Repolitisierung der IG Metall mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet. Dies lässt sich beispielhaft an der Sozialstaatsdebatte verdeutlichen. Die öffentliche Debatte um die Zukunft des Sozialstaates ist mit einigen Grundaxiomen behaftet, die auch im gewerkschaftlichen Lager nicht ausreichend hinterfragt werden. Dies beginnt mit der Debatte um die angeblich zu hohen Lohnnebenkosten, welche über die Senkung sozialer Standards reduziert werden sollen. Es geht weiter über die Problematisierung der demografischen Entwicklung, wobei in der öffentlichen Diskussion nahezu unbestritten bleibt, dass die Lösung der demografischen Probleme durch die Umstellung von der Umlagefinanzierung der sozialen Sicherung auf eine Kapitaldeckung erfolgen solle.

Bundesregierung und Opposition aus CDU/CSU und FDP begründen ihre jeweiligen Konzepte mit Argumenten, die einer Prüfung nicht standhalten: Die Lohnnebenkosten müssten gesenkt werden, um die Arbeitslosigkeit abzubauen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen; ferner erfordere die demografische Entwicklung die teilweise Privatisierung sozialer Leistungen und die stärkere Umstellung von der Umlagefinanzierung auf die Kapitaldeckung; letztlich seien die arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen zu starr und müssten weiter flexibilisiert werden, um dem Arbeitsmarkt Wachstumsimpulse zu geben.

Die aktuellen Debatten beschreiben die Probleme nur unzureichend und bieten insbesondere falsche Lösungsansätze.

Unzweifelhaft sind in den letzten Jahren die Sozialversicherungsbeitragssätze angestiegen. Die Belastungen bekamen insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu spüren. Trotz ansteigender Arbeitslosigkeit sind die Ausgaben für Soziales – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – in den letzten zwanzig Jahren konstant bei etwa einem Drittel geblieben. Das prozentuale Anwachsen der Sozialversicherungsabgaben ist primär auf die gestiegene Arbeitslosigkeit, die sinkende Lohnquote und die Ausweitung geringfügiger und sonstiger prekärer, nicht sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zurückzuführen. Hinzu kommt, dass die Arbeitgeber, beispielsweise im Bereich arbeitsbedingter Erkrankungen, Kosten, die sie in der Vergangenheit allein zu tragen hatten, in immer stärkerem Maße auf die solidarischen Sicherungssysteme abwälzen.

Maßstab für die internationale Wettbewerbsfähigkeit können zudem nicht die Lohnnebenkosten, sondern nur die Lohnstückkosten sein. In Anbetracht der Tatsache, dass Deutschland immer noch Weltmeister im Export pro Kopf ist, wird deutlich, dass die Debatte um zu hohe Lohnnebenkosten lediglich der Umverteilung zu Lasten der Lohnabhängigen dient.

Auch die demographische Entwicklung ist nicht das Problem für die solidarische Weiterentwicklung der Sozialsysteme. Unbestritten weisen Modellrechnungen darauf hin, dass der Altersquotient (quantitatives Verhältnis „jung“ zu „alt“) bis etwa 2050 ansteigen wird. Ob es gelingt, soziale Standards zu erhalten und auszubauen, hängt aber nicht in erster Linie vom quantitativen Verhältnis Jung zu Alt ab, sondern von der Anzahl der tatsächlich beschäftigten Erwerbstätigen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, der Entwicklung von Produktivität und Wachstum sowie von der Verteilung der Wertschöpfung.

Hinzu kommt, dass weder die empfohlene Privatisierung noch die Umstellung von der Umlagefinanzierung auf eine stärkere Kapitaldeckung demografische Probleme zu lösen vermag. Auch eine privatisierte, kapitalgedeckte Alterssicherung ist davon abhängig, dass eine ausreichende Wertschöpfung sichergestellt ist, aus der der Lebensunterhalt für die nichterwerbstätigen Generationen realisiert werden kann.

Die Debatte um die demografische Entwicklung wird heute vielfach in der Absicht geführt, die Lohnabhängigen zusätzlich zu belasten, während die Kapitalseite weiter entlastet werden soll.

3. Unzureichende Bestimmung des Verhältnisses zwischen IG Metall und Betriebsräten

In der personalpolitischen Auseinandersetzung im Vorfeld und auf dem Gewerkschaftstag selbst ist deutlich geworden, dass die IG Metall lange Zeit einer Bestimmung des Verhältnisses Betriebsräte – Gewerkschaft ausgewichen ist. Unter dem Deckmantel der Basisdemokratie haben einzelne Betriebsrats- bzw. Gesamt-/Konzern-Betriebsratsvorsitzende über die Presse die personalpolitische Debatte geführt. Dass einzelne Kollegen Presse und Parteipolitik instrumentalisieren (und sich ihrerseits instrumentalisieren lassen), um die IG Metall nach ihren Vorstellungen zu modeln, wirft Fragen nach ihrem eigenen Verständnis von demokratischer Willensbildung innerhalb der IG Metall auf. Gleichwohl ist das dahinter liegende Problem noch wesentlich tiefer:

Es geht darum, ob Betriebsratsmitglieder die IG Metall vor den Karren betrieblicher Partialinteressen spannen, oder ob es gelingt, aus einer umfassenden, gesellschaftlichen Sicht im gewerkschaftlichen Sinne betriebliche Interessenvertretung zu realisieren. Das hieße aber, eine überbetriebliche Sicht von Arbeitnehmerinteressen in den Betrieben zu verankern, anstatt die Politik der betrieblichen Standortkoalition in die IG Metall zu exportieren und dort auf nationaler Ebene als Bündnis für Arbeit auferstehen zu lassen. Dies erfordert eine umfassende Politisierung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und der gewerkschaftlichen Betriebspolitik in Verbindung mit der Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Vertrauensleutearbeit.

4. Neubestimmung des Verhältnisses zur SPD

Die Hegemonie neoliberalen Denkens spiegelt sich auch im Verhältnis zur SPD wieder. Auch wenn die Politik der Neuen Sozialdemokratie gegenüber dem Neoliberalismus Unterschiede aufweist, liegen ihr doch die bereits angedeuteten neoliberalen Grundmaximen zugrunde. Anders als der pure Neoliberalismus orientiert die Neue Sozialdemokratie auf staatliche Interventionen – von Riester-Rente bis zur (individuellen) Zwangsversicherung des Krankengeldes – und versteht somit unter „wettbewerbskonformem Umbau des Sozialstaates“ nicht einfach die ersatzlose Zerschlagung der bisherigen Sicherungssysteme, sondern deren „Umbau“ durch Umfinanzierung ausschließlich zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei gleichzeitiger Absenkung der Standards auf ein „zu vertretendes“ Minimalniveau. Damit wird aus dem aktiven, umverteilenden Sozialstaat, der die Marktkräfte bremst, der „aktivierende, Wettbewerb entfaltende Sozialstaat“, der die Marktkräfte befördert.

Über diesen Paradigmenwechsel herrscht innerhalb der IG Metall noch nicht ausreichend Klarheit. In der Debatte treten Auffassungen zutage, die die angeblich vorhandenen qualitativen Unterschiede zwischen der Politik der SPD und der Union betonen; demnach verbleibe die SPD mit Blick auf die Tarifautonomie und die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung innerhalb des bisherigen Systems, während die Union auf die Zerschlagung des Systems setze. Man muss diesen Analytikern allerdings bescheinigen, dass sie noch nicht in der Realität angekommen sind. Die Vorschläge der Union zur Unterminierung der Tarifautonomie wurden durch die Erklärung Schröders, selbst gesetzlich initiativ zu werden, wenn sich die Gewerkschaften nicht zur Ausweitung betrieblicher Bündnisse für Arbeit bekennen, erst möglich. Auch die faktische große Koalition in der Gesundheitspolitik sowie die Umsetzung der Ergebnisse der Hartz-Kommission werden nicht hinreichend zur Kenntnis genommen. Ob es die Einführung von Elementen der privaten Krankenversicherung in die Gesetzliche Krankenversicherung ist, oder die Ausweitung von Mini-Jobs, Ich-AGs und Leiharbeit – eine Einschätzung, dass die Sozialdemokratie grundsätzlich auf den Bestand des klassischen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zielt, bleibt – unter Beachtung der Fakten – kaum nachvollziehbar. Offensichtlich spielen hier emotionale, langfristige politische Bindungen zur Sozialdemokratie eine entscheidende Rolle.

Die IG Metall hat die Anforderung, sich den Kurswechsel von SPD zu New Labour zu vergegenwärtigen, noch nicht bewältigt. Das ungeklärte Verhältnis zur SPD erweist sich auch im sozial- und gesellschaftspolitischen Bereich als entscheidende Mobilisierungshürde im Kampf gegen den Sozialabbau. Die bisherigen Ergebnisse der Mobilisierung zu bewerten, bedarf es natürlich auch der Entwicklung von Erfolgsmaßstäben unter geänderten politischen Bedingungen (hierzu weiter unten). Gleichwohl kann man bereits vorwegnehmen, dass eine halbherzige Mobilisierung auch nur zu halbherzigen Ergebnissen führt. Wenn die Demonstrationsorte für den 24.05.2003 erst zwei Wochen vor der Durchführung der Aktionen bekannt sind, wenn kurz nachdem der DGB-Bundesvorstand eine Kampagne „Ja zu Reformen – Nein zum Sozialabbau“ beschlossen hat, drei Gewerkschaften eine Erklärung „Ja zu Reformen“ abgeben und wenn der DGB-Bundesvorsitzende – offensichtlich mit Rückendeckung der IG Metall – während der Durchführung der Aktivitäten bereits eine „Sommerpause“ verkündet, dann muss eine Teilnehmerzahl von 90.000 noch geradezu als Erfolg bewertet werden. Offensichtlich ist, dass innerhalb der Gewerkschaften im Allgemeinen, aber auch in der IG Metall eine Beißhemmung gegenüber der aktuellen Bundesregierung besteht, die leider nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Dies ist zum einen auf das innerhalb der Gesamtorganisation noch ungeklärte Verhältnis zur neuen Sozialdemokratie zurückzuführen. Hinzu kommt aber ebenso, dass die neoliberale Hegemonie auch nicht am Funktionärskörper der IG Metall spurlos vorbeigeht und daher eine Offenheit gegenüber den Argumentationsmustern der Bundesregierung besteht.

5. Neubestimmung der Erfolgsfrage

Insgesamt stellen sich die Rahmenbedingungen für Erfolge in den letzten Jahren grundlegend anders dar: Wegfall des internationalen Systemgegensatzes, Ausdifferenzierung des Arbeitnehmerlagers, Neuorientierung der Sozialdemokratie bei sinkenden Profitraten und sich weltweit verschärfender Konkurrenz führen zu völlig anderen Handlungsbedingungen der IG Metall. Während es in der siebziger Jahren möglich war, durch Massenaktivitäten kurzfristig grundlegende Zugeständnisse sowohl von der Arbeitgeberseite als auch von staatlicher Seite zu erzielen, stehen die Durchsetzungsmöglichkeiten heute im reziproken Verhältnis zur Durchsetzungsnotwendigkeit.

Damit stellen sich die Kriterien zur Bemessung eines Erfolges neu. Selbst zahlenmäßig relevante Aktivitäten, seien es Demonstrationen zu gesellschaftspolitischen Fragen, seien es betriebliche Aktivitäten bis hin zu Arbeitsniederlegungen, werden in den meisten Fällen nicht mehr dazu führen, dass die materiellen Forderungen der Gewerkschaften auch tatsächlich unmittelbar durchgesetzt werden. Das heißt, der Erfolg solcher Aktivitäten besteht darin, die gesellschaftliche Debatte gegen die neoliberale Vormacht zu befördern, dass Bewusstsein zu verankern, dass man nicht allein steht, und die politischen Kosten der Gegenseite zu erhöhen.

Sicherlich werden auf der betrieblichen und tariflichen Ebene dort, wo die Organisationsgrade hoch sind, auch materielle Verschlechterungen abgewehrt und Verbesserungen durchgesetzt werden können. Unter dem Strich bleibt aber, dass wir in der Organisation eine Strategiedebatte brauchen und gemeinsam definieren müssen, was unter den drastisch verschlechterten Rahmenbedingungen realisierbare Etappenschritte sind, deren Erreichung dann auch als Erfolg qualifiziert werden kann. Die Entpolitisierung der Organisation, in dem man sich unzureichende Tarifergebnisse schön redet – etwa dadurch, dass das Tariferhöhungsvolumen aus zwei Jahren addiert wird – , ist der falsche Weg.

II. Die IG Metall nach dem Gewerkschaftstag

Auf dem zweiten Teil des Gewerkschaftstags ist eine große Anzahl der Probleme thematisiert worden. Offenkundig ist aber auch geworden, dass deren Thematisierung noch nicht in ausreichendem Maße zu gemeinsamen Ergebnissen geführt hat, so dass die Handlungsfähigkeit der IG Metall noch nicht im erforderlichen Umfang gewährleistet ist. Ein Großteil der Entschließungen enthält lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich alle verständigen können. Diese formale Einigkeit geht aber zu Lasten der strategischen Klarheit. Insbesondere im Bereich der Tarif-, Betriebs- und Bildungspolitik sind unterschiedliche Sichtweisen benannt, ist aber zu wenig Klärung herbeigeführt worden.

Dies lässt sich auch anhand der Auseinandersetzungen um die sozialpolitische Entschließung verdeutlichen. Zwar ist es in der Entschließung gelungen, eine kritische Sichtweise des Verhältnisses zur neuen Sozialdemokratie und zum aktivierenden Sozialstaat zu entwickeln, aber es war nicht möglich, im erforderlichen Umfang eine kritische Auseinandersetzung mit der Lohnnebenkostensenkungs-Ideologie und mit der Debatte um die Demografie zu realisieren.

Geleistet hat die Entschließung immerhin, neben Positionsbestimmungen auch mittelfristige Konzepte zu definieren. Es wurde beschlossen, auf die weiteren Auseinandersetzungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik und die rentenpolitische Auseinandersetzung zu fokussieren und gleichzeitig das Konzept der IG Metall zur Erwerbstätigenversicherung im Bereich der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung weiter zu entwickeln und in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu stellen.

Strittig blieb aber, wie sich die IG Metall in die aktuelle Auseinandersetzung um die Agenda 2010 einschalten und wie sie sich zur bundesweiten Demonstration gegen Sozialabbau am 1. November 2003 in Berlin positionieren sollte. Der Beschluss, die bereits eingeleiteten Aktivitäten zu verstärken, wozu auch „die Teilnahme vieler Metallerinnen und Metaller an der Demonstration“ gehöre, ist dabei nicht nur Ausdruck des ungeklärten Verhältnisses zur Sozialdemokratie, sondern auch Ausdruck der zutreffenden Einschätzung, nicht ausreichend mobilisierungsfähig gegenüber der Mitgliedschaft zu sein. Damit war die Entschließung auch Ausdruck der aktuellen Handlungsschwierigkeiten der IG Metall.

Nun hat die Demonstration in Berlin zwischenzeitlich gezeigt, dass ein großer Teil der Bevölkerung mobilisierbar ist; hierzu dürfte auch ein erklecklicher Anteil von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern gehört haben, die zum Teil durch die Mobilisierungsarbeit vieler IG Metall-Verwaltungsstellen zur Demonstration gekommen sind. Dies muss Konsequenzen für die weitere Mobilisierung gegen den Sozialabbau haben.

III. Perspektiven

Der Bundeskanzler und SPD-Parteivorsitzende hat unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die Agenda 2010 erst der Beginn eines lang andauernden Prozesses ist, von dem er sich durch die diversen Lobby-Verbände, zu denen die Neue Sozialdemokratie auch die Gewerkschaften zählt, nicht abbringen lassen wird.

Der Konflikt zwischen der strategischen Positionierung der Neuen Sozialdemokratie und der Interessenlage der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder ist ein langfristiges Problem, das auf strukturellen Ursachen beruht.

Für die Gewerkschaften ist der „neue“ Kurs der SPD mit erheblichen Problemen behaftet: Selbstverständlich brauchen sie in den politischen Arenen durchsetzungsfähige Akteure, die gewerkschaftliche Vorstellungen aufnehmen und umsetzen. Aber auf absehbare Zeit ist dies trotz bestehenderer sozialdemokratisch/grüner Parlamentsmehrheiten nicht gewährleistet.

Dadurch, dass die Gewerkschaften auf sich selbst zurückgeworfen sind, ergeben sich allerdings auch neue Chancen. Gewerkschaften müssen künftig verstärkt politischen Einfluss durch die Aktivierung der Zivilgesellschaft ausüben. Das bedeutet: Was zuvor über gemeinsame Traditionen, Werte und sozialkulturelle Deutungsmuster in die SPD transportiert werden konnte, muss in einer Phase gewachsener Distanz über den Kampf für andere gesellschaftliche Mehrheiten versucht werden. Die IG Metall muss mit eigenen, überzeugenden Alternativkonzepten und mit Mobilisierungskraft um Mehrheiten in der Gesellschaft streiten. Dies ist langfristig die Voraussetzung für die Realisierung politischer Mehrheiten. Denn die legitimationsabhängigen Parteien können, bei Strafe ihres politischen Untergangs, auf Dauer nicht gegen gesellschaftliche Mehrheiten regieren – und das ist gut so. Das heißt, es geht nicht darum, keinen Einfluss mehr auf die SPD und mit der SPD auf die Gesetzgebung zu nehmen. Es geht darum, diese Einflussnahme durch die Einbeziehung neuer sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Organisationen, wie Kirchen, Sozialverbände und globalisierungskritische Bewegungen (z.B. Attac) zu erweitern.

1. Der Ausbau gewerkschaftlicher Kompetenzen

Eine solche Orientierung erfordert von den Gewerkschaften neue und umfassende Kompetenzen, die zusammenkommen und einander ergänzen müssen.

Bisher war ein ausgewogenes Verhältnis von Konfliktfähigkeit und Kompromissbereitschaft, von Mobilisierung und Verhandlung, von Widerstandsfähigkeit und Reformfähigkeit identitätsstiftend für die IG Metall. Zukünftig wird die Mobilisierung gesellschaftlichen Protestes und Widerstandes in politischen Konfliktsituationen an Bedeutung gewinnen. Dabei geht es nicht zuletzt darum, durch diesen Widerstand die politischen Konfliktkosten der aktuellen Politik des wettbewerbsorientierten Umbaus des Sozialstaates zu erhöhen, um damit alternative, solidarische Reformstrategien attraktiver zu machen.

Dass gesellschaftliche Mobilisierungsfähigkeit vor allem auf einer möglichst breiten Verankerung in den Betrieben und in den unterschiedlichen Lohnabhängigengruppen beruhen muss und dass sie die erfolgreiche Wahrnehmung der Kernaufgabe der IG Metall, die tarifpolitische Interessenvertretung der Mitglieder, voraussetzt, steht außer Frage. Das heißt, die Vorraussetzung dafür, Mobilisierungsfähigkeit in sozialpolitischen Fragen zu erlangen bzw. auszuweiten, besteht u.a. darin, die Lücke zwischen dem sozialen Profil der Mitgliedschaft der Gewerkschaften und der gesellschaftlichen Sozialstruktur zu schließen und sich in organisationspolitisch neuen Sektoren der dienstleistungsgeprägten Erwerbsarbeit zu verankern sowie einen adäquaten interessenpolitischen Zugang zu den unterschiedlichen Lohnabhängigenmilieus zu finden.

Für die Gewerkschaften ist nicht nur die politische, sondern gleichermaßen die konzeptionell-strategische Mobilisierung von zentraler Bedeutung. Auch wenn die Ressourcen vielfach durch die aktuellen Abwehrkämpfe gebunden sind, müssen die Gewerkschaften stärker zu „politisch-strategischen Investitionen“ bereit sein. Stärker als heute sind finanzielle, personelle und intellektuelle Ressourcen für die Entwicklung strategischer Zukunftskonzepte bereitzustellen. Es geht gewissermaßen um gesellschaftskritische Grundlagenarbeit.

Dabei stellen sich neue Anforderungen an die zu entwickelnden Konzepte. Bisher waren Gewerkschaften bei der Entwicklung ihrer Konzepte darauf bedacht, eine zu große Entfernung von dem zu vermeiden, was man für durchsetzbar hielt. Ein solcher Schuss Pragmatismus wird auch in Zukunft notwendig sein, sollen gewerkschaftliche Reformvorstellungen nicht in abstrakte Utopien abgleiten. Aber wenn Reformkompetenz und politische Ausstrahlungskraft in die Zivilgesellschaft gefragt sind, sind gewerkschaftliche Authentizität und politische Bündnis-Fähigkeit die entscheidenden Prüfkriterien. Die Gewerkschaften müssen auch wieder den Mut zurückgewinnen, Forderungen und Konzepte in die politischen Aushandlungsprozesse einzubringen, hinter denen sich nicht sofort Befürworter versammeln und die gleichwohl „von der Sache her“ unverzichtbar sind. Die Entwicklung von Mobilisierungs- wie von Konzeptkompetenzen muss verstärkt in Diskussionen und kontinuierlichen Arbeitsbeziehungen mit anderen gesellschaftlichen Akteuren geschehen.

2. Die wachsende Bedeutung strategischer Allianzen

Um die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit über eine erhöhte Mobilisierungs-, Konzept- und Netzwerk-Kompetenz zu stärken, ist ein systematischer Ausbau der Kontakte zu anderen gesellschaftlichen und politischen Akteuren notwendig. Dabei geht es zum einen natürlich auch um „Mobilisierungs-Allianzen“ zur Verbesserung von Durchsetzungsmacht in zugespitzten Konfliktsituationen. Die Gewerkschaften verfügen durchaus über Erfahrungen mit Kirchen, Wohlfahrtsverbänden oder Nichtregierungsorganisationen. Hinzu kommen könnten zukünftig aber vor allem in den sozialpolitischen Feldern auch Akteure wie Gesetzliche Krankenversicherungen oder die Rentenversicherungsträger. Sie verfügen über gesonderte organisatorische Eigeninteressen, die sich zumindest punktuell in Strategien einer solidarischen Sozialstaatsreform integrieren lassen.

Auch dies erfordert einige Veränderungen auf Seiten der Gewerkschaften. So müsste von der heutigen Praxis abgewichen werden, politische Positionen im Alleingang zu entwickeln, um diese dann anderen als unveränderbare Plattform für ein gemeinsames Handeln anzubieten, ohne sie wirklich offen zur Debatte zu stellen. Wer möglichst früh auf gemeinsames politisches Handeln orientiert, der muss auch möglichst früh die Ziele dieses Handeln gemeinsam definieren und nicht nur Mobilisierungs-, sondern auch Konzept-Allianzen miteinander eingehen.

3. Mehr Flexibilität durch einen neuen Bündnis-Pragmatismus

Wenn die Sozialdemokratie als natürlicher Bündnispartner kaum mehr zur Verfügung steht, müssen die Gewerkschaften immer wieder an den jeweiligen Konfliktgegenständen orientiert nach Partnern Ausschau halten. Das historische Dauerbündnis mit der Sozialdemokratie dürfte durch „von Fall zu Fall“-Bündnisse mit unterschiedlichen Akteuren ersetzt werden. Wenn notwendig und möglich sollten die Gewerkschaften auch nicht zögern, auf Sachkoalitionen mit anderen parlamentarischen Kräften hinzuarbeiten. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass die wettbewerbspolitische Radikalisierung der CDU/CSU zu internen Konflikten führt und der „Flügel der Sozialdemokraten in der Union“ (von Norbert Blüm bis Horst Seehofer), der heute nahezu bedeutungslos ist, als Proteststimme an Bedeutung gewinnt. Auch im Bereich der ehemals linken, grünen Bewegung existieren noch Akteure, die sich in der Juniorpartnerrolle beim wettbewerbsorientierten Rückbau des Sozialstaates nicht wohl fühlen. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass eine linke politische Kraft wieder in parlamentarische Funktionen zurückkehrt.

4. Für eine Europäisierung gewerkschaftlichen Handelns

Auch wenn die zentralen Handlungsebenen nach wie vor im nationalstaatlichen Raum verbleiben, die Gewerkschaften müssen – neben einer Verstärkung der Koordination der Tarifpolitik auf europäischer Ebene – die Forderung nach einem sozialen Europa auf die Tagesordnung setzen. Zum einen, weil Europa sonst immer mehr zu einem Modell wird, das nach den Anforderungen der internationalen Finanzmärkten geformt wird. Zum zweiten, weil es gelingen muss, die weitgehende Konvergenz der sozialen Auseinandersetzungen in Europa um den Kündigungsschutz, die Arbeitsmarktpolitik und die Altersrenten sowie die Privatisierung sozialer Vorsorge (auch im Zusammenhang mit GATS) für eine gemeinsame politische Initiative für ein neues europäisches Sozialmodell zu nutzen. Zum dritten, um zu verhindern, dass die Erweiterung der Europäischen Union zu einer Konkurrenz der sozialen Regulierungssysteme genutzt wird, die nicht dem Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse verpflichtet ist, sondern Lohndumping und gesellschaftliche Spaltung institutionalisiert. Viertens, um die Erweiterung der sozialen Bürgerrechte, die im Europäischen Konvent nicht nachhaltig gestärkt werden, mit einer politischen Initiative für eine Demokratisierung Europas zu verknüpfen, die sich nicht in der Frage von Mehrheitsentscheidungen im Rat erschöpft.

In zahlreichen europäischen Ländern sind rechtspopulistische oder rechtsextremistische Parteien direkt an der Regierung beteiligt oder die nationalen Regierungen kalkulieren mit ihrer Unterstützung. Für ein soziales Europa zu kämpfen, heißt auch die Verfestigung von Strukturen eines „autoritären Kapitalismus“ zu verhindern. Offensichtlich ist aber, dass die Gewerkschaften das „Projekt“ eines sozialen Europas nicht allein schultern können. Auch hier bedarf es der umfassenden Zusammenarbeit mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, die ihrerseits über unterschiedliche Zugänge zur Thematik, umfassendes fachliches „Know How“ und Ideenreichtum im Hinblick auf die Entwicklung kreativer Aktionen verfügen. Insoweit stellt sich die europäische Ebene nicht nur als zusätzliche Anforderung, sondern gleichzeitig als Bereicherung dar.

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Vor dem Hintergrund der geschilderten materiellen und ideologischen Umbrüche in der Arbeitswelt und der Gesellschaft stehen die Gewerkschaften in der Bundesrepublik vor umfassenden Anforderungen an eine grundlegende Neuorientierung. Sie müssen ihre Perspektiven und Erfolgskriterien langfristiger ausrichten, die Interessenvertretung der Lohnabhängigen auf eine autonome Plattform stellen und diese im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen entwickeln und gesellschaftlich verankern. Dies ist die Basis, um auf lange Sicht auch im Parlament Mehrheiten für eine Reformpolitik zu realisieren, die diesen Namen verdient. Dies alles erfordert eine grundlegende Modernisierung der Gewerkschaften, die allerdings manchem „Modernisierer“ gegen den Strich gehen dürfte.